© Randy
Wochenbetreuung

Kapitel 12 - Unerwarteter Besuch


 


Donnerstag morgen.
Das schrille Klingeln des Weckers beendete jäh eine viel zu kurze Nacht. Am Mittwoch war hier wirklich die Hölle los gewesen! Zwar ging es Lisa wieder deutlich besser doch Carmen, das Mädchen aus ihrem Nachbarzimmer, stürzte so unglücklich, dass ich sie zusammen mit Bernd, ihrem Betreuer, ins Krankenhaus bringen musste. Der behandelnde Arzt meinte, dass sie mindestens zwei Wochen lang auf der Station bleiben müsste.

Mitten in der Nacht rief auch noch Gabriel Engels aus Tokio an und bat mich, Lisa noch eine weitere Woche im Institut belassen zu dürfen, weil sich seine Verhandlungen hinzögen und er daher seine Geschäftsreise verlängern müsste. Er hatte wohl die Zeitverschiebung übersehen, als er mich zu dieser Unzeit anrief. Hätte ich ihm nur nicht meine Durchwahl gegeben!
Ein Stündchen mehr Schlaf hätte mir wirklich nicht geschadet!

Kaum dass ich mit der Rasur begonnen hatte, klingelte schon wieder das Telefon.
"Hartmann!"
"Stammann am Apparat! Entschuldigen Sie, dass ich so früh anrufe, aber es ist wirklich wichtig! Der Baron hat sich für heute Vormittag angekündigt!!!"
"Was? Er war doch erst über Weihnachten hier? Was will er denn schon wieder?"
"Keine Ahnung! Ich weiß nur, dass er wegen irgendeiner dringenden Sache vorbeikommen will und auch noch heute wieder abreist. Mir schient, dass er sehr in Eile war. Bitte kommen Sie so schnell wie möglich ins mein Büro."

Hastig beendete ich meine Rasur, duschte, suchte meinen besten Anzug heraus und kleidete mich an. Meine Gedanken wanderten zu dem älteren Edelmann, der uns besuchen würde.

Dr. Stammann gründete das Institut vor knapp zwölf Jahren, damals noch in beengten Räumlichkeiten mitten in der Stadt. Zweifelsohne war er ein hervorragender Pädagoge, jedoch ein umso schlechterer Kaufmann. So kam es, dass schon nach zwei Jahren der Betrieb vor dem finanziellen Aus stand, wenn Dr. Stammann nicht durch einen Zufall den Baron, wie wir ihn kurz nannten, kennen gelernt hätte. Der alleinstehende Herr fand Gefallen an Stammanns Idealen und stieg als stiller Teilhaber in die Firma ein. Ihm ging es ausschließlich darum, der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen, keineswegs war er ein Voyeur, der sich an den Bestrafungen von Sündern und Sünderinnen ergötzte.

Dank seiner großzügigen Finanzspritzen kam das Institut schnell wieder auf die Beine. Er finanzierte unsere Gehälter und beglich seit damals die laufenden Kosten des Institutsbetriebes. Nur so war es möglich, die pädagogischen Dienste des Hauses kostenlos anzubieten. Ein ehemaliges Jagdschlösschen ließ er aufwändig umbauen, so dass Stammann im Folgejahr das Institut hier her aufs Land verlegen konnte. Zwei Mal im Jahr, im Sommer und zu Weihnachten, verbrachte er einige Tage im Institut, um etwas Abstand vom Alltag zu gewinnen.

Ohne Anklopfen trat ich in Dr. Stammanns Büro ein, wo sich bereits einige andere Erzieher versammelt hatten. Es herrschte helle Aufregung, der Doktor ging unruhig im Zimmer herum und alle rätselten, was der Grund des unerwarteten Besuches sein könnte.
"Ich habe versucht, seinen Chauffeur anzurufen, aber er geht nicht ran. Womöglich sind sie schon losgefahren. Dann sind sie in spätestens zwei Stunden hier!"

Herr Reisig, unser Koch, eilte herein, um dem Chef den geänderten Speiseplan vorzulegen. Geistesabwesend nickte Dr. Stammann und wandte sich wieder uns Erziehern zu.

"Die Schützlinge sollen sich ordentlich anziehen und anständig benehmen! Bitte sorgen Sie dafür!" Wir erhielten noch einige schnelle Anweisungen, bevor wir zu ihnen eilten, um diese zu instruieren.

Auch auf den Fluren herrschte Hektik. Der Hausmeister rannte fluchend herum, reparierte schnell dies und das oder räumte Gegenstände weg, die seit Wochen an der selben Stelle lagen, ohne bislang niemanden gestört zu haben.

Das Frühstück fiel äußerst spartanisch aus, weil der Koch mit den Vorbereitungen für das Mittagsmenü alle Hände voll zu tun hatte. Wir Betreuer hatten kaum Zeit, uns um die Mädchen zu kümmern, und so kam es wie es kommen musste: Lisa schnappte sich einen Joghurtbecher, zog den Deckel ab und schleckte ihn gierig ab.
"Lisa!", schalt ich sie, "was ist denn das schon wieder für eine neue Unsitte?"
Erschrocken ließ sie den Alu-Deckel fallen und beschmutzte auch noch die Tischdecke.
Ich verpasste ihr ein paar saftige Tatzen und nach dem Frühstück noch die wohlverdiente Anzahl Klapse vor aller Augen.

Unsere Schützlinge machten sich nützlich, wo immer es ging, halfen in der Küche oder beim Schneeräumen, kurz gesagt, alle zogen am selben Strick. Mit der Zeit kehrte wieder etwas Ruhe ein bis Dr. Stammann uns ankündigte, dass der Fahrer soeben angerufen hätte und innerhalb einer Viertelstunde eintreffen würde.

Kaum dass wir uns alle vor dem großen Eingangsportal versammelt hatten, rollte auch schon eine schwere englische Limousine den langen Weg herauf. Der Fahrer steuerte den Wagen bis unmittelbar vor das Haus, stieg aus, ging diensteifrig um den Wagen herum und öffnete die Türe des Fonds.

Heraus stieg ein etwa 70-jähriger hochgewachsener Herr. Das weiße Haar und der dünne Oberlippenbart hoben sich kontrastreich von seinem braungebrannten Gesicht ab. Seine aufrechte Haltung und seine betont ruhig gesetzten Schritte unterstrichen das würdevolle Erscheinungsbild.

Da stand er wie er leibt und lebt!
Friedrich Carl Wilhelm Freiherr von Ährenfels höchstpersönlich.

"Weidmannsheil, Herr Baron! Fehlt nur noch seine Schrotflinte", dachte ich mir als ich ihn in seiner grünen Jägerkluft sah, die ihm ein joviales und naturverbundenes Aussehen verlieh.

Dr. Stammann eilte ihm mit ausgestreckten Händen entgegen, um ihn herzlich zu begrüßen. Völlig überraschend stieg plötzlich eine zweite Person aus dem Wagen. Eine junge, etwa zwanzigjährige Frau, dunkelhaarig und hübsch, auffällig gekleidet und edlen Schmuck tragend. Ihr Gesichtsausdruck verriet eine Mischung aus Zögern und Unsicherheit, aber auch Arroganz. Ich hatte sie noch nie gesehen. Abgesehen von seinem Chauffeur kam unser Mäzen immer ohne Begleitung. Fragend blickte ich zu den anderen Erzieher, doch auch dort erntete ich nur Schulterzucken. Lediglich unser Chef schien die Frau zu kennen.

Im großen Saal hielt Ährenfels eine kurze Begrüßungsrede um kurz darauf mit dieser Frau in Dr. Stammanns Büro zu verschwinden. Zuvor verteilte er noch Geschenke an uns Erzieher. Ein netter Brauch. Kleine, aber wertvolle Mitbringsel, mit denen uns der alte Gentleman immer wieder den anstrengenden Arbeitsalltag zu versüßen verstand. Das Geheimnis um diese junge Frau hatte er jedoch immer noch nicht gelüftet.

Mit Lisa an der Hand schlenderte ich ein wenig durch den Park, als uns plötzlich Karsten wild gestikulierend entgegen eilte.
"Du sollst schnell zum Chef ins Büro kommen!"

Lisa brachte ich in die Bibliothek, wo auch unser Mäzen Platz genommen hatte, um sich seiner Lieblingsbeschäftigung zu widmen: Dem Schmökern in den Ordner mit den Dankesschreiben, die wir von geplagten Eheleuten und Partnern erhalten hatten. Beim Eintreten bekam ich noch einen Rest einer Unterhaltung mit, bei welcher der alte Herr diese junge Frau sehr ernst verwarnte. Es ging um ihr Benehmen gegenüber den anderen Schützlingen und dass sie sich hier einzuordnen habe. Als wir den Raum betraten verstummte das Gespräch.

Lisa wusste wohl nicht so recht, wie sie den alten Herren ansprechen sollte und sträubte sich, die Bibliothek zu betreten. Doch Ährenfels stand auf und kam uns mit offenen Armen lachend entgegen.
"Guten Tag! Sie müssen Lisa sein, stimmt's? Herr Dr. Stammann hat mir schon von Ihnen erzählt." Schmunzelnd nahm ich zu Kenntnis, wie Lisa versuchte einen artigen Knicks zu machen.
"Ähm ja, guten Tag, Seine Durchlaucht oder wie man da sagt", stotterte sie.
Der alte Herr lachte nur und meinte, sie solle sich keine Umstände machen.
"Diese Zeiten sind längst vorbei! Nennen Sie mich einfach Herr Ährenfels."
Das Mädchen nickte erleichtert.
"Leisten Sie mir doch ein wenig Gesellschaft. Sie würden mir dadurch eine große Ehre erweisen! Darf ich Ihnen einen Kaffe oder einen Tee kommen lassen?" Er schob Lisa einen bequemen Sessel hin. Sie entschied sich für Tee, welchen er sogleich telefonisch in der Küche orderte. Die Beiden begannen eine zwanglose Unterhaltung, worauf hin ich mich verabschiedete und auf den Weg machte.

Die junge Frau, von der ich immer noch nicht wusste, wer sie war, blätterte gelangweilt in irgendwelchen Bücher, um sie kurz darauf achtlos an anderen Stellen ins Regal zurück zu stellen. So eine Schlamperei ärgerte mich gewaltig, doch ich musste dringend zum Chef.

Dr. Stammann war noch mit dem Ausfüllen von Formularen beschäftigt, als ich eintrat. Seine Miene verriet nicht gerade Hochstimmung.
"Wissen Sie, wer diese Frau ist, Herr Doktor?" Wortlos reichte er mir eine neu angelegte Akte.
"Constantina Excelsia Freiin v. Ährenfels-Rosszy", las ich da in großen Lettern. "Einundzwanzig Jahre."
"Seine Großnichte", ergänzte der Doktor trocken.
"Aufgeblasene Zimtzicke", entfuhr es mir in einem Anflug von Unachtsamkeit.
"Allerdings!", bestätigte mir mein Chef zu meiner Erleichterung.
"Bleibt sie hier?" Stammann nickte stumm.
"Und wer soll sie betreuen? Hans ist krank und die anderen sind auch alle eingeteilt!"
"Bernd wäre doch frei. Carmen wird die nächsten zwei Wochen bestimmt nicht wieder kommen."
"Ich dachte, er soll sich um Hansens Schützling, solange dieser das Bett hüten muss."
"Hmmm. Stimmt auch wieder. Wir werden sehen..."
"Dieser Neuen würde eine ordentliche Tracht auch nicht schaden", setze ich nach.
"Darum ist sie ja hier", kam es knapp aus Stammanns Mund.

Es war unverkennbar, dass unser Chef mit der Lage der Dinge mehr als unzufrieden war. Er gab mir noch einige Instruktion über den Tagesablauf mit der Bitte, die anderen Betreuer und die Schützlinge zu informieren.

Die Neue erhielt das frei gewordene Zimmer neben Lisa und von mir die Hausordnung verbunden mit dem Auftrag, diese gründlich zu lesen. Mit den anderen Mädchen schien sie sich bereits etwas angefreundet zu haben, doch vermisste ich den gegenüber Erziehern angemessenen Respekt. Mit ostentativer Lässigkeit warf sie die Hausordnung auf den Tisch und ließ sich in das Bett plumpsen.
Die wird sich noch wundern, dachte ich mir im Stillen.

Das Mittagessen fiel ausgesprochen üppig aus. Gänsebraten - die Lieblingsspeise unseres Mäzens. Alle waren guter Laune, plaudern und lachen über die lustigen Anekdoten unseres weltgewandten Sponsors.
Mit fiel auf, dass Constantina, die von den anderen Schützlingen kurz Tina genannt wurde, keinen Schmuck mehr trug. Sie schien also doch die Hausordnung gelesen zu haben. Auch war ihre Kleidung nun betont schlicht und ihre gespielte Lässigkeit einer eher abwartenden Haltung gewichen. Ihre Unterhaltung erschien mir etwas zu vorlaut, doch ihre Tischsitten waren tadellos.

Kaum dass der Tisch abgetragen war, zog sich v. Ährenfels mit Dr. Stammann erneut in dessen Büro zurück. Etwa eine halbe Stunde später rief der Doktor Bernd und mich an, dass wir in sein Büro kommen sollten. Herr Ährenfels begrüßte uns sehr herzlich und kam gleich zur Sache.
"Sie werden entschuldigen, dass ich so plötzlich hier aufgetaucht bin, doch der Grund meines Kommens ist ein höchst Dringlicher. Constantina, meine Großnichte, verbrachte die letzten Wochen in meinem Hause, was mir die Gelegenheit verschaffte, sie ein wenig zu beobachten und ihr Wesen zu studieren.
Meine Eile ist nicht grundlos, denn wenn es mir vergönnt ist, werde ich dieses Jahr meinen 70. Geburtstag feiern. Höchste Zeit, mir Gedanken über meine Nachfolge zu machen. Ich beabsichtige, Constantina zur Haupterbin meiner Güter und Firmen einzusetzen. Sie wird im Herbst das Studium der Betriebswirtschaften aufnehmen und dürfte dann in drei oder vier Jahren in der Lage sein, die Besitzungen unseres Hauses kompetent zu führen. An ihren Fähigkeiten habe ich nicht die geringsten Zweifel, doch fehlt es ihr meines Erachtens noch an vielen Charakterstärken. Was liegt da näher als sie für einige Zeit in Ihre Betreuung zu geben? Ich habe daher entschieden, dass sie bis übernächsten Freitag im Institut verweilen wird, um sich so manche Unarten abzugewöhnen. Constantina ist in Vielem sehr ähnlich wie Lisa. Störrisch, unfolgsam, nachlässig, und so weiter. Bei ihr kommt leider noch eine nicht zu übersehende Arroganz und Verschwendungssucht hinzu, welche ich zu tolerieren nicht gewillt bin." Wir nicken alle drei.

"Ursprünglich wollte ich Constantina in Ihre Hände geben, lieber Herr Hartmann, doch Herr Dr. Stammann hat mich überzeugt, dass Sie mit Lisas Betreuung vollauf ausgelastet sind." Sein Blick wandte sich Bernd zu, während ich mich erleichtert zurücklehnte.
"Daher würde ich mich sehr freuen, wenn Sie, Herr Reuter, sich ihrer annehmen würden, zumal Sie durch diesen bedauerlichen Unfall mit Fräulein Carmen nun frei sind. Wie höre sind Sie in vielen Dingen auch etwas strenger, wenn gleich nicht so wie Hans. Ich denke, Constantina ist bei Ihnen sehr gut aufgehoben." Bernd ließ sich bewilligen, dass er trotzdem alle paar Tage nach Carmen schauen könnte, die sonst völlig alleine im Krankenhaus liegen würde.

"Bitte lassen Sie meiner Großnichte nichts durchgehen und nehmen Sie keinerlei Rücksicht auf ihre Abstammung und die Tatsache, dass sie eines Tages meine ehrende Funktion als Förderer dieses Institutes übernehmen wird. Sie hat sich einzuordnen wie alle anderen hier im Haus!"

Dr. Stammann nickte zustimmend. Wir klärten noch einige Details, um kurz darauf das Büro zu verlassen. Ährenfels machte sich auf den Heimweg und auch Bernd fuhr los, um Carmen den versprochenen Krankenbesuch abzustatten, während ich Lisa zur Mittagsruhe ins Bett brachte und anschließend selbst etwas Schlaf nachholen wollte.

Doch die Ruhe sollte mir nicht vergönnt bleiben...