Donnerstag morgen.
Das schrille Klingeln des Weckers beendete jäh eine viel zu kurze
Nacht. Am Mittwoch war hier wirklich die Hölle los gewesen! Zwar
ging es Lisa wieder deutlich besser doch Carmen, das Mädchen aus
ihrem Nachbarzimmer, stürzte so unglücklich, dass ich sie
zusammen mit Bernd, ihrem Betreuer, ins Krankenhaus bringen musste.
Der behandelnde Arzt meinte, dass sie mindestens zwei Wochen lang auf
der Station bleiben müsste.
Mitten in der Nacht rief auch noch Gabriel Engels aus Tokio an und
bat mich, Lisa noch eine weitere Woche im Institut belassen zu dürfen,
weil sich seine Verhandlungen hinzögen und er daher seine Geschäftsreise
verlängern müsste. Er hatte wohl die Zeitverschiebung übersehen,
als er mich zu dieser Unzeit anrief. Hätte ich ihm nur nicht meine
Durchwahl gegeben!
Ein Stündchen mehr Schlaf hätte mir wirklich nicht geschadet!
Kaum dass ich mit der Rasur begonnen hatte, klingelte schon wieder
das Telefon.
"Hartmann!"
"Stammann am Apparat! Entschuldigen Sie, dass ich so früh
anrufe, aber es ist wirklich wichtig! Der Baron hat sich für heute
Vormittag angekündigt!!!"
"Was? Er war doch erst über Weihnachten hier? Was will er
denn schon wieder?"
"Keine Ahnung! Ich weiß nur, dass er wegen irgendeiner dringenden
Sache vorbeikommen will und auch noch heute wieder abreist. Mir schient,
dass er sehr in Eile war. Bitte kommen Sie so schnell wie möglich
ins mein Büro."
Hastig beendete ich meine Rasur, duschte, suchte meinen besten Anzug
heraus und kleidete mich an. Meine Gedanken wanderten zu dem älteren
Edelmann, der uns besuchen würde.
Dr. Stammann gründete das Institut vor knapp zwölf Jahren,
damals noch in beengten Räumlichkeiten mitten in der Stadt. Zweifelsohne
war er ein hervorragender Pädagoge, jedoch ein umso schlechterer
Kaufmann. So kam es, dass schon nach zwei Jahren der Betrieb vor dem
finanziellen Aus stand, wenn Dr. Stammann nicht durch einen Zufall den
Baron, wie wir ihn kurz nannten, kennen gelernt hätte. Der alleinstehende
Herr fand Gefallen an Stammanns Idealen und stieg als stiller Teilhaber
in die Firma ein. Ihm ging es ausschließlich darum, der Gesellschaft
einen Dienst zu erweisen, keineswegs war er ein Voyeur, der sich an
den Bestrafungen von Sündern und Sünderinnen ergötzte.
Dank seiner großzügigen Finanzspritzen kam das Institut
schnell wieder auf die Beine. Er finanzierte unsere Gehälter und
beglich seit damals die laufenden Kosten des Institutsbetriebes. Nur
so war es möglich, die pädagogischen Dienste des Hauses kostenlos
anzubieten. Ein ehemaliges Jagdschlösschen ließ er aufwändig
umbauen, so dass Stammann im Folgejahr das Institut hier her aufs Land
verlegen konnte. Zwei Mal im Jahr, im Sommer und zu Weihnachten, verbrachte
er einige Tage im Institut, um etwas Abstand vom Alltag zu gewinnen.
Ohne Anklopfen trat ich in Dr. Stammanns Büro ein, wo sich bereits
einige andere Erzieher versammelt hatten. Es herrschte helle Aufregung,
der Doktor ging unruhig im Zimmer herum und alle rätselten, was
der Grund des unerwarteten Besuches sein könnte.
"Ich habe versucht, seinen Chauffeur anzurufen, aber er geht nicht
ran. Womöglich sind sie schon losgefahren. Dann sind sie in spätestens
zwei Stunden hier!"
Herr Reisig, unser Koch, eilte herein, um dem Chef den geänderten
Speiseplan vorzulegen. Geistesabwesend nickte Dr. Stammann und wandte
sich wieder uns Erziehern zu.
"Die Schützlinge sollen sich ordentlich anziehen und anständig
benehmen! Bitte sorgen Sie dafür!" Wir erhielten noch einige
schnelle Anweisungen, bevor wir zu ihnen eilten, um diese zu instruieren.
Auch auf den Fluren herrschte Hektik. Der Hausmeister rannte fluchend
herum, reparierte schnell dies und das oder räumte Gegenstände
weg, die seit Wochen an der selben Stelle lagen, ohne bislang niemanden
gestört zu haben.
Das Frühstück fiel äußerst spartanisch aus, weil
der Koch mit den Vorbereitungen für das Mittagsmenü alle Hände
voll zu tun hatte. Wir Betreuer hatten kaum Zeit, uns um die Mädchen
zu kümmern, und so kam es wie es kommen musste: Lisa schnappte
sich einen Joghurtbecher, zog den Deckel ab und schleckte ihn gierig
ab.
"Lisa!", schalt ich sie, "was ist denn das schon wieder
für eine neue Unsitte?"
Erschrocken ließ sie den Alu-Deckel fallen und beschmutzte auch
noch die Tischdecke.
Ich verpasste ihr ein paar saftige Tatzen und nach dem Frühstück
noch die wohlverdiente Anzahl Klapse vor aller Augen.
Unsere Schützlinge machten sich nützlich, wo immer es ging,
halfen in der Küche oder beim Schneeräumen, kurz gesagt, alle
zogen am selben Strick. Mit der Zeit kehrte wieder etwas Ruhe ein bis
Dr. Stammann uns ankündigte, dass der Fahrer soeben angerufen hätte
und innerhalb einer Viertelstunde eintreffen würde.
Kaum dass wir uns alle vor dem großen Eingangsportal versammelt
hatten, rollte auch schon eine schwere englische Limousine den langen
Weg herauf. Der Fahrer steuerte den Wagen bis unmittelbar vor das Haus,
stieg aus, ging diensteifrig um den Wagen herum und öffnete die
Türe des Fonds.
Heraus stieg ein etwa 70-jähriger hochgewachsener Herr. Das weiße
Haar und der dünne Oberlippenbart hoben sich kontrastreich von
seinem braungebrannten Gesicht ab. Seine aufrechte Haltung und seine
betont ruhig gesetzten Schritte unterstrichen das würdevolle Erscheinungsbild.
Da stand er wie er leibt und lebt!
Friedrich Carl Wilhelm Freiherr von Ährenfels höchstpersönlich.
"Weidmannsheil, Herr Baron! Fehlt nur noch seine Schrotflinte",
dachte ich mir als ich ihn in seiner grünen Jägerkluft sah,
die ihm ein joviales und naturverbundenes Aussehen verlieh.
Dr. Stammann eilte ihm mit ausgestreckten Händen entgegen, um
ihn herzlich zu begrüßen. Völlig überraschend stieg
plötzlich eine zweite Person aus dem Wagen. Eine junge, etwa zwanzigjährige
Frau, dunkelhaarig und hübsch, auffällig gekleidet und edlen
Schmuck tragend. Ihr Gesichtsausdruck verriet eine Mischung aus Zögern
und Unsicherheit, aber auch Arroganz. Ich hatte sie noch nie gesehen.
Abgesehen von seinem Chauffeur kam unser Mäzen immer ohne Begleitung.
Fragend blickte ich zu den anderen Erzieher, doch auch dort erntete
ich nur Schulterzucken. Lediglich unser Chef schien die Frau zu kennen.
Im großen Saal hielt Ährenfels eine kurze Begrüßungsrede
um kurz darauf mit dieser Frau in Dr. Stammanns Büro zu verschwinden.
Zuvor verteilte er noch Geschenke an uns Erzieher. Ein netter Brauch.
Kleine, aber wertvolle Mitbringsel, mit denen uns der alte Gentleman
immer wieder den anstrengenden Arbeitsalltag zu versüßen
verstand. Das Geheimnis um diese junge Frau hatte er jedoch immer noch
nicht gelüftet.
Mit Lisa an der Hand schlenderte ich ein wenig durch den Park, als
uns plötzlich Karsten wild gestikulierend entgegen eilte.
"Du sollst schnell zum Chef ins Büro kommen!"
Lisa brachte ich in die Bibliothek, wo auch unser Mäzen Platz
genommen hatte, um sich seiner Lieblingsbeschäftigung zu widmen:
Dem Schmökern in den Ordner mit den Dankesschreiben, die wir von
geplagten Eheleuten und Partnern erhalten hatten. Beim Eintreten bekam
ich noch einen Rest einer Unterhaltung mit, bei welcher der alte Herr
diese junge Frau sehr ernst verwarnte. Es ging um ihr Benehmen gegenüber
den anderen Schützlingen und dass sie sich hier einzuordnen habe.
Als wir den Raum betraten verstummte das Gespräch.
Lisa wusste wohl nicht so recht, wie sie den alten Herren ansprechen
sollte und sträubte sich, die Bibliothek zu betreten. Doch Ährenfels
stand auf und kam uns mit offenen Armen lachend entgegen.
"Guten Tag! Sie müssen Lisa sein, stimmt's? Herr Dr. Stammann
hat mir schon von Ihnen erzählt." Schmunzelnd nahm ich zu
Kenntnis, wie Lisa versuchte einen artigen Knicks zu machen.
"Ähm ja, guten Tag, Seine Durchlaucht oder wie man da sagt",
stotterte sie.
Der alte Herr lachte nur und meinte, sie solle sich keine Umstände
machen.
"Diese Zeiten sind längst vorbei! Nennen Sie mich einfach
Herr Ährenfels."
Das Mädchen nickte erleichtert.
"Leisten Sie mir doch ein wenig Gesellschaft. Sie würden mir
dadurch eine große Ehre erweisen! Darf ich Ihnen einen Kaffe oder
einen Tee kommen lassen?" Er schob Lisa einen bequemen Sessel hin.
Sie entschied sich für Tee, welchen er sogleich telefonisch in
der Küche orderte. Die Beiden begannen eine zwanglose Unterhaltung,
worauf hin ich mich verabschiedete und auf den Weg machte.
Die junge Frau, von der ich immer noch nicht wusste, wer sie war, blätterte
gelangweilt in irgendwelchen Bücher, um sie kurz darauf achtlos
an anderen Stellen ins Regal zurück zu stellen. So eine Schlamperei
ärgerte mich gewaltig, doch ich musste dringend zum Chef.
Dr. Stammann war noch mit dem Ausfüllen von Formularen beschäftigt,
als ich eintrat. Seine Miene verriet nicht gerade Hochstimmung.
"Wissen Sie, wer diese Frau ist, Herr Doktor?" Wortlos reichte
er mir eine neu angelegte Akte.
"Constantina Excelsia Freiin v. Ährenfels-Rosszy", las
ich da in großen Lettern. "Einundzwanzig Jahre."
"Seine Großnichte", ergänzte der Doktor trocken.
"Aufgeblasene Zimtzicke", entfuhr es mir in einem Anflug von
Unachtsamkeit.
"Allerdings!", bestätigte mir mein Chef zu meiner Erleichterung.
"Bleibt sie hier?" Stammann nickte stumm.
"Und wer soll sie betreuen? Hans ist krank und die anderen sind
auch alle eingeteilt!"
"Bernd wäre doch frei. Carmen wird die nächsten zwei
Wochen bestimmt nicht wieder kommen."
"Ich dachte, er soll sich um Hansens Schützling, solange dieser
das Bett hüten muss."
"Hmmm. Stimmt auch wieder. Wir werden sehen..."
"Dieser Neuen würde eine ordentliche Tracht auch nicht schaden",
setze ich nach.
"Darum ist sie ja hier", kam es knapp aus Stammanns Mund.
Es war unverkennbar, dass unser Chef mit der Lage der Dinge mehr als
unzufrieden war. Er gab mir noch einige Instruktion über den Tagesablauf
mit der Bitte, die anderen Betreuer und die Schützlinge zu informieren.
Die Neue erhielt das frei gewordene Zimmer neben Lisa und von mir die
Hausordnung verbunden mit dem Auftrag, diese gründlich zu lesen.
Mit den anderen Mädchen schien sie sich bereits etwas angefreundet
zu haben, doch vermisste ich den gegenüber Erziehern angemessenen
Respekt. Mit ostentativer Lässigkeit warf sie die Hausordnung auf
den Tisch und ließ sich in das Bett plumpsen.
Die wird sich noch wundern, dachte ich mir im Stillen.
Das Mittagessen fiel ausgesprochen üppig aus. Gänsebraten
- die Lieblingsspeise unseres Mäzens. Alle waren guter Laune, plaudern
und lachen über die lustigen Anekdoten unseres weltgewandten Sponsors.
Mit fiel auf, dass Constantina, die von den anderen Schützlingen
kurz Tina genannt wurde, keinen Schmuck mehr trug. Sie schien also doch
die Hausordnung gelesen zu haben. Auch war ihre Kleidung nun betont
schlicht und ihre gespielte Lässigkeit einer eher abwartenden Haltung
gewichen. Ihre Unterhaltung erschien mir etwas zu vorlaut, doch ihre
Tischsitten waren tadellos.
Kaum dass der Tisch abgetragen war, zog sich v. Ährenfels mit
Dr. Stammann erneut in dessen Büro zurück. Etwa eine halbe
Stunde später rief der Doktor Bernd und mich an, dass wir in sein
Büro kommen sollten. Herr Ährenfels begrüßte uns
sehr herzlich und kam gleich zur Sache.
"Sie werden entschuldigen, dass ich so plötzlich hier aufgetaucht
bin, doch der Grund meines Kommens ist ein höchst Dringlicher.
Constantina, meine Großnichte, verbrachte die letzten Wochen in
meinem Hause, was mir die Gelegenheit verschaffte, sie ein wenig zu
beobachten und ihr Wesen zu studieren.
Meine Eile ist nicht grundlos, denn wenn es mir vergönnt ist, werde
ich dieses Jahr meinen 70. Geburtstag feiern. Höchste Zeit, mir
Gedanken über meine Nachfolge zu machen. Ich beabsichtige, Constantina
zur Haupterbin meiner Güter und Firmen einzusetzen. Sie wird im
Herbst das Studium der Betriebswirtschaften aufnehmen und dürfte
dann in drei oder vier Jahren in der Lage sein, die Besitzungen unseres
Hauses kompetent zu führen. An ihren Fähigkeiten habe ich
nicht die geringsten Zweifel, doch fehlt es ihr meines Erachtens noch
an vielen Charakterstärken. Was liegt da näher als sie für
einige Zeit in Ihre Betreuung zu geben? Ich habe daher entschieden,
dass sie bis übernächsten Freitag im Institut verweilen wird,
um sich so manche Unarten abzugewöhnen. Constantina ist in Vielem
sehr ähnlich wie Lisa. Störrisch, unfolgsam, nachlässig,
und so weiter. Bei ihr kommt leider noch eine nicht zu übersehende
Arroganz und Verschwendungssucht hinzu, welche ich zu tolerieren nicht
gewillt bin." Wir nicken alle drei.
"Ursprünglich wollte ich Constantina in Ihre Hände geben,
lieber Herr Hartmann, doch Herr Dr. Stammann hat mich überzeugt,
dass Sie mit Lisas Betreuung vollauf ausgelastet sind." Sein Blick
wandte sich Bernd zu, während ich mich erleichtert zurücklehnte.
"Daher würde ich mich sehr freuen, wenn Sie, Herr Reuter,
sich ihrer annehmen würden, zumal Sie durch diesen bedauerlichen
Unfall mit Fräulein Carmen nun frei sind. Wie höre sind Sie
in vielen Dingen auch etwas strenger, wenn gleich nicht so wie Hans.
Ich denke, Constantina ist bei Ihnen sehr gut aufgehoben." Bernd
ließ sich bewilligen, dass er trotzdem alle paar Tage nach Carmen
schauen könnte, die sonst völlig alleine im Krankenhaus liegen
würde.
"Bitte lassen Sie meiner Großnichte nichts durchgehen und
nehmen Sie keinerlei Rücksicht auf ihre Abstammung und die Tatsache,
dass sie eines Tages meine ehrende Funktion als Förderer dieses
Institutes übernehmen wird. Sie hat sich einzuordnen wie alle anderen
hier im Haus!"
Dr. Stammann nickte zustimmend. Wir klärten noch einige Details,
um kurz darauf das Büro zu verlassen. Ährenfels machte sich
auf den Heimweg und auch Bernd fuhr los, um Carmen den versprochenen
Krankenbesuch abzustatten, während ich Lisa zur Mittagsruhe ins
Bett brachte und anschließend selbst etwas Schlaf nachholen wollte.
Doch die Ruhe sollte mir nicht vergönnt bleiben...
|