Aaron hatte kaum eine Seite gelesen, da war Lisa schon fest eingeschlafen.
So bereitete er sich bei einer Tasse Kaffe innerlich auf das nun folgende
Gespräch vor. Dann ging er entschlossen zu Stammanns Büro
und klopfte. Der Doktor saß schon mit Hans zusammen. Beide sahen
Aaron erwartungsvoll an.
"Dann wollen wir mal," sagte Stammann und nahm die Akte Lisa,
die vor ihm bereit lag, auf. "Was gibt es zu berichten, Aaron?"
Aaron kam direkt zur Sache und nannte das Problem beim Namen. Er legte
seinen Standpunkt dar, ohne zu emotional zu werden. Hans und Dr. Stammann
hörten ihm aufmerksam zu. Dem Doktor war ebenfalls aufgefallen,
das Lisa verändert war. Er gab zu bedenken, wobei er Hans ansah,
dass die Mädchen sehr wohl folgen sollen, dass Gehorsam ein Hauptziel
dieses Institutes sei, dass aber der Charakter der Mädchen ausschlaggebend
für das Procedere und somit auch für den Erfolg sei. Man dürfe
die positiven Eigenschaften keinesfalls gefährden, um gewaltsam
das Ziel Gehorsamkeit zu erreichen.
Hans sah sehr ernst aus. Er hatte Lisa tatsächlich falsch eingeschätzt,
aber auch eine Reihe äußerer Umstände waren schuld,
an der unerquicklichen Situation. Hans wirkte erschöpft. Das hatte
er nicht gewollt, das hatte er auch nicht absehen können. Sicher,
er hatte Lisa versohlt, und sie hatte auch nicht gerade wenig bekommen.
Jedoch war er der Meinung gewesen, dass Lisa sogar weniger fest als
die anderen Mädchen versohlt hätte. Er habe sie zum Beispiel
draußen im Garten als erste übergelegt, da sie da noch warm
vom Umhertollen gewesen sei, so dass die Schläge nicht den empfindlicheren
kalten Po träfen.
Gut, das Streichen der Geschichten und des Nachtisches war vielleicht
übertrieben, aber er habe ein Druckmittel gebraucht, da es am Wochenende
sehr turbulent gewesen sei und er die Mädchen in Schach halten
musste, und was man androhe, das müsse man selbstverständlich
halten. Zudem habe er die Brisanz der Lage unterschätzt. Das mit
dem Einölen war nun wirklich ärgerlich, denn er wollte es
tun. Lisa habe sich jedoch nicht mehr von ihm anfassen lassen. Später
war dann eine Notaufnahme dazu gekommen, die auch noch einen Einsatz
in der Erziehung forderte. Es war Maike, das eine Zwillingsmädchen,
das Lisa schon vom ersten Mal kannte. Ihr Vater musste plötzlich
dienstlich verreisen, Alexandra durfte das erste mal alleine Zuhause
bleiben. Aber um Maike war es ja anders bestellt. Ja, und dann war es
zu spät zum Eincremen gewesen.
Man kam überein, dass Hans sich möglichst nicht entschuldigen
sollte und Aaron versuchen würde, mit dem strengen Erzieher nach
außen hin eine Einheit zu bilden. Damit sollte ein Autoritätsverlust
vermieden werden. Jedoch sollte es Hans sein, der bei nächster
Gelegenheit bei Lisa einlenken sollte, um den eingetretenen Vertauensbruch
zu kitten.
Alle waren froh, dass das Gespräch auf eine Einigung hinauslief.
Aaron kehrte in Lisas Zimmer zurück, um sie vom Mittagschlaf zu
wecken. Er fasste wie immer an ihre Stirn und erschrak. Was war sie
heiß! Umgehend nahm er ein Thermometer zur Hand und maß
der verdutzten Lisa die Temperatur. "39,7, Lisa, du hast ja Fieber,
du musst im Bett bleiben." Er deckte sie wieder zu und ging sofort
zurück ins Büro, wo telefonisch ein Arzt bestellt wurde. Aaron
sorgte unterdes für Getränk am Krankenbett. Möglichst
niemand sollte überflüssigerweise das Zimmer betreten, denn
eine Ansteckung der gesamten Belegschaft hätte verheerende Folgen.
Der Arzt traf ein und stellte einen schweren grippalen Infekt fest,
mit zugegeben sehr hohem Fieber, aber durchaus nichts Bedrohliches.
Er hinterließ einige Medikamente, wünschte gute Besserung
und verschwand.
Hans atmete auf. Das wird sicher schon in Lisa gesteckt und sich in
Form von Abgeschlagenheit geäußert haben. Er selbst erfuhr
dadurch eine gewisse Entlastung. Allerdings nicht sehr lange, dann schon
bald machten ihm heftige Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit zu schaffen.
In diesem Zustand konnte er unmöglich seinen Dienst verantwortungsbewusst
erfüllen. Hans lag wie Lisa danieder.
Aaron übernahm die Pflege Lisas, und hatte das Gefühl, so
etwas wieder gut machen zu können. Lisa erholte sich recht schnell.
Am Abend konnte sie kurz aufstehen und Gabriel anrufen, der allerdings
bereits unterrichtet worden war. Nun atmete er auf, dass es nicht so
schlimm war. Lisa war sehr matt und schlief die meiste Zeit. Auch den
nächsten Tag verbrachte sie hauptsächlich im Schlummer.
Erst gegen 16.00 aber erwachte sie. Aaron stellte sofort fest, dass
Lisas Blick wieder klarer war. Sie rappelte sich hoch und verlangte
nach ihrem Dessert, das in der Küche für sie zurückgestellt
worden war. Aaron lachte. "Das ist nun schon in die ewigen Jagdgründe
eingegangen, aber keine Angst, wir organisieren dir schon etwas."
Er ging in die Küche und richtete sich gedanklich auf ein Gefecht
mit Herrn Reisig ein. Der aber nahm die Bitte um ein neues Dessert mit
der ihm eigenen mürrischen Ergebenheit entgegen, und nach einer
Stunde stand eine große Schüssel an Lisas Bett.
Am nächsten Morgen begann Lisa zu quengeln, sie wolle in die Sonne
hinaus. Aaron nahm es als ein gutes Zeichen und machte mit der warm
eingepackten Lisa einen vorsichtigen Spaziergang in den Park. Die frische
Luft weckte die Lebensgeister wieder. Lisa war über den Berg.
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