Am Montagmorgen wurde Aaron früh wach. So zog er sich an und ging
auf die Station. Er begrüßte die Nachtwache und ließ
sich sagen, dass die Nacht allgemein friedlich verlaufen war, dass aber
Lisa zwei, drei Mal im Schlaf aufgeschrieen hätte.
Aaron ging in Lisas Zimmer und nahm die Akte mit. Da es noch sehr früh
war, schliefen die Mädchen noch. Lisa atmete tief und ruhig, und
Aaron nahm auf dem Sofa Platz. Vorsichtig schaltete er die kleine Schreibtischlampe
ein, damit er lesen konnte.
Lisa lag auf der Seite, das Gesicht der Wand zugedreht. Die Decke war
ein wenig verrutscht. Aaron wollte sie gerade etwas höher ziehen,
als Lisa sich bewegte. Das Hemdchen war ihr hochgerutscht und der Blick
auf die nackten Pobäckchen ließ Aaron einen kalten Schauer
über den Rücken laufen. Was war denn das? Ja, den Rohrstock
schien sie nicht bekommen zu haben, auch keine anderen harten Gegenstände,
aber Hans musste sie derart heftig versohlt haben, dass auf jeder Backe
ein handtellergroßer blauer Fleck zu sehen war. Aaron holte tief
Luft und zog ihr die Decke über. Dann setzte er sich nachdenklich
aufs Sofa und ließ den Blick schweifen. Im Papierkorb lag etwas
Dickes, was sich bei näheren Hinsehen als Lisa Buch mit den Gutenachtgeschichten
entpuppte. Sie hatte es einfach weggeworfen! Aus Zorn? Aus Resignation?
Oder war es Hans gewesen?
Nein, diesen Gedanken verwarf Aaron sofort wieder. Hans war zwar sehr
hart, aber er hatte nie Besitztümer der Schützlinge beschädigt
oder weggeworfen. Also doch Lisa! Aaron fühlte einen Stich in seinem
Herzen, und zum ersten Mal konnte er nachvollziehen, was in Gabriel
vorgehen musste, wenn er Lisa jemand anderem zur Betreuung überließ.
Warum nur hatte er sein freies Wochenende nicht verschoben? !
Aaron konnte nicht anders; er ging zum Bett und strich Lisa sanft über
den Kopf. Dabei riskierte er, dass sie erwachte, was auch umgehend geschah.
Lisa sah sich mit großen Augen um und setzte sich auf. D.h. sie
wollte es tun, stöhnte aber sogleich auf, als ihr Popo das Körpergewicht
tragen sollte. Ihr Körper sank zurück und sie fing an zu weinen.
Aaron setzte sich flugs auf die Bettkante und streichelte wie beim aller
ersten Mal ihren Rücken. Lisa sah ihm in die Augen, die Tränen
liefen, obwohl sie kein Geräusch von sich gab. Dieses Weinen, dachte
Aaron, ist viel, viel schlimmer als lautstarkes Geheule und Wehgeschrei.
Er gab einem unbändigen Verlangen nach und zog Lisa auf seinen
Schoß, wobei er darauf achtete, dass sie mehr lag als saß.
Lisa ließ es geschehen, kuschelt sich aber nicht ein. Ihre Augen
waren gerötet, der Blick schien Aaron leer zu sein. Wo war das
lebendige Strahlen, das sonst Blitzen gleich ihren Augen entsprang?
Aaron fühlte ein Beben tief in seinem Bauch, das er sich sofort
energisch selbst verbot. Sie wird unartig gewesen sein. Dann musste
sie halt was kriegen, sagte er sich selbst. Aber er konnte sich nicht
glauben.
Aaron legte Lisa vorsichtig zurück ins Bett und ging zum Schrank,
um eine Flasche Apres Povoll' zu holen. Es musste eine neue da
sein, denn die alte war noch letzte Woche zuende gegangen, weshalb er
schon Freitag eine neue parat gestellt hatte. Zu seinem großen
Erstaunen war sie noch völlig verschlossen. Aaron konnte es nicht
glauben. Hatte Hans Lisa nicht eingecremt? Es stand doch in der Akte
und war auch bei der Besprechung gesagt worden, dass sie eine sehr empfindliche
Haut hatte, die sorgfältig gepflegt werden musste. Zudem bestand
Extraanweisung von Gabriel über die Hautpflege. Nun nahm er die
Flasche und ging zurück zu Lisas Bett, wo er die Decke anhob. Lisa
zuckte zusammen.
"Ist ja gut, Lisa, ich will dich nur einölen, damit dein
Popo wieder gut wird," sprach er das Mädchen beruhigend an.
Lisa ließ auch das zu. Jedoch bemerkt Aaron ein Zittern durch
ihren Körper laufen. Allmählich wich Aarons Ungläubigkeit
einem aufsteigenden Zorn auf Hans. Er ölte das geschundene Hintereil
ein und hoffte, dass er so auch die Seele des Mädchens ein wenig
mit Balsam versorgen könnte.
Dann nahm er die Akte und las. Tatsächlich war Lisa an beiden
Abenden die Geschichte gestrichen worden. Ein Nachtischentzug war bis
einschließlich heute vermerkt. Ein Bad war stichwortartig am Sonntagabend
vermerkt, aber von Pflege stand nichts drin. Ein Seufzer entwich Aarons
Lippen, und verfluchte wiederholt sein Skiwochenende. Man durfte Lisa
einfach nicht jedem anvertrauen. Das merkte er sehr deutlich. Um sich
abzulenken, legte er Lisa Kleidung für den Tag heraus, wobei er
darauf achtete, möglichst weiche Stoffe und weit geschnittene Kleidung
zu nehmen. Dann schickte er seinen Schützling zur Toilette. Lisa
gehorchte sofort ohne ein Wort. Aaron blieb im Zimmer zurück und
war fassungslos. Ja, Gehorsam sollte sie lernen, aber sie sollte doch
nicht gebrochen werden.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass Herr Stammann gleich kommen würde.
Aaron beschloss, ihn unverzüglich aufzusuchen und ihn und Hans
zu einer Besprechung zu laden. Allerdings war er ebenso entschlossen,
Lisa nicht einen weiteren Moment mehr allein zu lassen. Er nahm das
Buch aus dem Papierkorb und legte es wieder auf Lisas Nachtschrank.
Der Vormittag war betrüblich. Lisa sagte so gut wie nichts, parierte
aber aufs Wort. Aaron spürte einen großen Verlust. Den Vormittag
über machte er mit dem Mädchen einen Spaziergang im regentrüben
Park. So hoffte er, ihre Lebensgeister wecken zu können. Die Besprechung
mit Stammann und Hans war auf 13.00 gelegt worden, wenn Lisa eh im Bett
liegen sollte. Der Tag zog sich wie Kaugummi. Beim Mittagessen ließ
sich Lisa wenig auflegen. Aaron spürte Doktor Stammanns prüfende
Blicke auf ihr, und auch die anderen Erzieher schienen irritiert. Als
Karsten mit dem Nachtischtablett hereinkam, füllten sich Lisas
Augen mit Tränen und sie senkte den Blick. Claudia und sie gingen
leer aus. Lisa griff nach dem Wasserglas und stieß es um. Sie
zuckte zusammen. Aaron gab ihr ein paar Klapse auf die Finger und schickte
sie ins Zimmer. So hatte er mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen:
Er musste handeln, wollte aber keinesfalls ihre Rückseite noch
mehr malträtieren. Zudem wollte er es Lisa ersparen, dass sie zuschauen
musste, wie die anderen eine köstliche, mit Schokoornamenten verzierte
Cremespeise aßen.
"Entschuldigt mich bitte", sagte er und verließ ebenfalls
das Esszimmer. Keiner wunderte sich, denn die Vermutung lag nahe, dass
er jetzt zu einer Standpauke ansetzen würde. In Lisas Zimmer angekommen,
blieb er wie angewurzelt stehen.
Lisa war nicht da! Oder doch? Hinter dem Schreibtisch bei der Heizung
schaute ein bestrumpfter Fuß hervor. Lisa hatte sich in der warmen
Ecke verkrochen. Aaron ging hinzu und zog das Mädchen vorsichtig
aber bestimmt hervor. Er nahm es bei der Hand und ging mit ihm in den
Flur hinaus. Ungeachtet der Tatsache, dass Lisa nur einen Hausschuh
trug, trat er mit ihr den Weg in die Küche an.
Herr Reisig, der Koch, war mit den letzten Aufräumarbeiten befasst.
"Herr Reisig", sagte Aaron mit fester Stimme. "Bitte
machen Sie doch eine Schüssel mit dem Pudding zurecht und stellen
Sie sie bis auf weiteres kalt." "Ja, gut", brummte dieser,
wenig erfreut, wieder etwas hervorsuchen zu müssen. Er nahm eine
Glasschüssel und knallte lieblos einige Löffel Schokopudding
hinein, nahm Cellophan und wollte das Ganze abdecken. "Nein, Herr
Reisig, bitte machen Sie es genauso zurecht, wie die Portionen heute
Mittag. Mit Sahne und Verzierungen. Herr Reisig gab einen unwilligen
Ton von sich und verschwand mit dem Kopf in einem der unteren Schränke,
um die benötigten Zutaten wieder herauszusuchen. Ein gedämpftes
Fluchen war zu hören, über diese Gören mit ihren Extrawürsten.
Befriedigt führte Aaron Lisa nun wieder in ihr Zimmer zurück,
wo er sie für die Mittagsruhe bettfertig machte. Dann setzte er
sich zu ihr und nahm unaufgefordert das Buch zur Hand.
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