© Lilli
Wochenbetreuung

Kapitel 10 - Regentrübe Stimmung


 


Am Montagmorgen wurde Aaron früh wach. So zog er sich an und ging auf die Station. Er begrüßte die Nachtwache und ließ sich sagen, dass die Nacht allgemein friedlich verlaufen war, dass aber Lisa zwei, drei Mal im Schlaf aufgeschrieen hätte.
Aaron ging in Lisas Zimmer und nahm die Akte mit. Da es noch sehr früh war, schliefen die Mädchen noch. Lisa atmete tief und ruhig, und Aaron nahm auf dem Sofa Platz. Vorsichtig schaltete er die kleine Schreibtischlampe ein, damit er lesen konnte.

Lisa lag auf der Seite, das Gesicht der Wand zugedreht. Die Decke war ein wenig verrutscht. Aaron wollte sie gerade etwas höher ziehen, als Lisa sich bewegte. Das Hemdchen war ihr hochgerutscht und der Blick auf die nackten Pobäckchen ließ Aaron einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Was war denn das? Ja, den Rohrstock schien sie nicht bekommen zu haben, auch keine anderen harten Gegenstände, aber Hans musste sie derart heftig versohlt haben, dass auf jeder Backe ein handtellergroßer blauer Fleck zu sehen war. Aaron holte tief Luft und zog ihr die Decke über. Dann setzte er sich nachdenklich aufs Sofa und ließ den Blick schweifen. Im Papierkorb lag etwas Dickes, was sich bei näheren Hinsehen als Lisa Buch mit den Gutenachtgeschichten entpuppte. Sie hatte es einfach weggeworfen! Aus Zorn? Aus Resignation? Oder war es Hans gewesen?

Nein, diesen Gedanken verwarf Aaron sofort wieder. Hans war zwar sehr hart, aber er hatte nie Besitztümer der Schützlinge beschädigt oder weggeworfen. Also doch Lisa! Aaron fühlte einen Stich in seinem Herzen, und zum ersten Mal konnte er nachvollziehen, was in Gabriel vorgehen musste, wenn er Lisa jemand anderem zur Betreuung überließ. Warum nur hatte er sein freies Wochenende nicht verschoben? !

Aaron konnte nicht anders; er ging zum Bett und strich Lisa sanft über den Kopf. Dabei riskierte er, dass sie erwachte, was auch umgehend geschah. Lisa sah sich mit großen Augen um und setzte sich auf. D.h. sie wollte es tun, stöhnte aber sogleich auf, als ihr Popo das Körpergewicht tragen sollte. Ihr Körper sank zurück und sie fing an zu weinen. Aaron setzte sich flugs auf die Bettkante und streichelte wie beim aller ersten Mal ihren Rücken. Lisa sah ihm in die Augen, die Tränen liefen, obwohl sie kein Geräusch von sich gab. Dieses Weinen, dachte Aaron, ist viel, viel schlimmer als lautstarkes Geheule und Wehgeschrei. Er gab einem unbändigen Verlangen nach und zog Lisa auf seinen Schoß, wobei er darauf achtete, dass sie mehr lag als saß.

Lisa ließ es geschehen, kuschelt sich aber nicht ein. Ihre Augen waren gerötet, der Blick schien Aaron leer zu sein. Wo war das lebendige Strahlen, das sonst Blitzen gleich ihren Augen entsprang? Aaron fühlte ein Beben tief in seinem Bauch, das er sich sofort energisch selbst verbot. Sie wird unartig gewesen sein. Dann musste sie halt was kriegen, sagte er sich selbst. Aber er konnte sich nicht glauben.

Aaron legte Lisa vorsichtig zurück ins Bett und ging zum Schrank, um eine Flasche ‚Apres Povoll' zu holen. Es musste eine neue da sein, denn die alte war noch letzte Woche zuende gegangen, weshalb er schon Freitag eine neue parat gestellt hatte. Zu seinem großen Erstaunen war sie noch völlig verschlossen. Aaron konnte es nicht glauben. Hatte Hans Lisa nicht eingecremt? Es stand doch in der Akte und war auch bei der Besprechung gesagt worden, dass sie eine sehr empfindliche Haut hatte, die sorgfältig gepflegt werden musste. Zudem bestand Extraanweisung von Gabriel über die Hautpflege. Nun nahm er die Flasche und ging zurück zu Lisas Bett, wo er die Decke anhob. Lisa zuckte zusammen.

"Ist ja gut, Lisa, ich will dich nur einölen, damit dein Popo wieder gut wird," sprach er das Mädchen beruhigend an. Lisa ließ auch das zu. Jedoch bemerkt Aaron ein Zittern durch ihren Körper laufen. Allmählich wich Aarons Ungläubigkeit einem aufsteigenden Zorn auf Hans. Er ölte das geschundene Hintereil ein und hoffte, dass er so auch die Seele des Mädchens ein wenig mit Balsam versorgen könnte.

Dann nahm er die Akte und las. Tatsächlich war Lisa an beiden Abenden die Geschichte gestrichen worden. Ein Nachtischentzug war bis einschließlich heute vermerkt. Ein Bad war stichwortartig am Sonntagabend vermerkt, aber von Pflege stand nichts drin. Ein Seufzer entwich Aarons Lippen, und verfluchte wiederholt sein Skiwochenende. Man durfte Lisa einfach nicht jedem anvertrauen. Das merkte er sehr deutlich. Um sich abzulenken, legte er Lisa Kleidung für den Tag heraus, wobei er darauf achtete, möglichst weiche Stoffe und weit geschnittene Kleidung zu nehmen. Dann schickte er seinen Schützling zur Toilette. Lisa gehorchte sofort ohne ein Wort. Aaron blieb im Zimmer zurück und war fassungslos. Ja, Gehorsam sollte sie lernen, aber sie sollte doch nicht gebrochen werden.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass Herr Stammann gleich kommen würde. Aaron beschloss, ihn unverzüglich aufzusuchen und ihn und Hans zu einer Besprechung zu laden. Allerdings war er ebenso entschlossen, Lisa nicht einen weiteren Moment mehr allein zu lassen. Er nahm das Buch aus dem Papierkorb und legte es wieder auf Lisas Nachtschrank.

Der Vormittag war betrüblich. Lisa sagte so gut wie nichts, parierte aber aufs Wort. Aaron spürte einen großen Verlust. Den Vormittag über machte er mit dem Mädchen einen Spaziergang im regentrüben Park. So hoffte er, ihre Lebensgeister wecken zu können. Die Besprechung mit Stammann und Hans war auf 13.00 gelegt worden, wenn Lisa eh im Bett liegen sollte. Der Tag zog sich wie Kaugummi. Beim Mittagessen ließ sich Lisa wenig auflegen. Aaron spürte Doktor Stammanns prüfende Blicke auf ihr, und auch die anderen Erzieher schienen irritiert. Als Karsten mit dem Nachtischtablett hereinkam, füllten sich Lisas Augen mit Tränen und sie senkte den Blick. Claudia und sie gingen leer aus. Lisa griff nach dem Wasserglas und stieß es um. Sie zuckte zusammen. Aaron gab ihr ein paar Klapse auf die Finger und schickte sie ins Zimmer. So hatte er mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Er musste handeln, wollte aber keinesfalls ihre Rückseite noch mehr malträtieren. Zudem wollte er es Lisa ersparen, dass sie zuschauen musste, wie die anderen eine köstliche, mit Schokoornamenten verzierte Cremespeise aßen.

"Entschuldigt mich bitte", sagte er und verließ ebenfalls das Esszimmer. Keiner wunderte sich, denn die Vermutung lag nahe, dass er jetzt zu einer Standpauke ansetzen würde. In Lisas Zimmer angekommen, blieb er wie angewurzelt stehen.

Lisa war nicht da! Oder doch? Hinter dem Schreibtisch bei der Heizung schaute ein bestrumpfter Fuß hervor. Lisa hatte sich in der warmen Ecke verkrochen. Aaron ging hinzu und zog das Mädchen vorsichtig aber bestimmt hervor. Er nahm es bei der Hand und ging mit ihm in den Flur hinaus. Ungeachtet der Tatsache, dass Lisa nur einen Hausschuh trug, trat er mit ihr den Weg in die Küche an.

Herr Reisig, der Koch, war mit den letzten Aufräumarbeiten befasst. "Herr Reisig", sagte Aaron mit fester Stimme. "Bitte machen Sie doch eine Schüssel mit dem Pudding zurecht und stellen Sie sie bis auf weiteres kalt." "Ja, gut", brummte dieser, wenig erfreut, wieder etwas hervorsuchen zu müssen. Er nahm eine Glasschüssel und knallte lieblos einige Löffel Schokopudding hinein, nahm Cellophan und wollte das Ganze abdecken. "Nein, Herr Reisig, bitte machen Sie es genauso zurecht, wie die Portionen heute Mittag. Mit Sahne und Verzierungen. Herr Reisig gab einen unwilligen Ton von sich und verschwand mit dem Kopf in einem der unteren Schränke, um die benötigten Zutaten wieder herauszusuchen. Ein gedämpftes Fluchen war zu hören, über diese Gören mit ihren Extrawürsten. Befriedigt führte Aaron Lisa nun wieder in ihr Zimmer zurück, wo er sie für die Mittagsruhe bettfertig machte. Dann setzte er sich zu ihr und nahm unaufgefordert das Buch zur Hand.